„Nein, nein! Nicht! Tut ihnen nichts! Bitte, bitte, tut ihnen nichts! B i t t e ! “

 

Der Junge flehte eindringlich die fremden Gestalten, die sich nach dem hinterhältigen Überfall langsam von ihm entfernten, mit tränenerstickter Stimme verzweifelt an. An einem Baum hatten sie ihn festgebunden und einen nach Moder und Schimmel stinkenden Sack über seinen Kopf gestülpt. Immer wieder zerrte er an dem dünnen Strick aus Plastik, der dadurch messerscharf in seine Haut schnitt und ein höllisches Brennen verursachte. Doch der Schmerz war dem Jungen jetzt egal. Er biss die Zähne fest zusammen!

 

Er musste seine gefesselten Hände und Füße befreien!

 

Er musste zu seinen Pferden!

 

Er musste den Tieren helfen!

 

Er ahnte Schreckliches.

 

In der Finsternis, die ihn umgab, konnte er nichts und niemanden erkennen. Die Dunkelheit schärfte jedoch die Sinne des Jungen. Er spürte, dass jemand in der Nähe war. Und dann hörte er ein Lachen, nein, das Lachen. Dieses Lachen kannte er nur zu gut: Es war grausam, höhnisch, eiskalt, gnadenlos! Es verfolgte ihn. Seit vielen, vielen Wochen. Jetzt knackte es im Unterholz. Mit angehaltenem Atem lauschte er angestrengt, während sein Herz wild klopfte. Schwere Schritte  entfernten sich in die Richtung seiner beiden Pferde. Ahnungslos schliefen diese friedlich in ihrem Unterstand auf der Koppel. Jemand riss ihm plötzlich den Sack vom Kopf und leuchtete mit einer Taschenlampe in seine Augen. „Jetzt kommt das Beste!“, versprach eine ihm bekannte Stimme. Dieses Versprechen wurde begleitet von einem genüsslichen Schmatzen. Geblendet vom grellen Licht drückte der Junge fest seine Augen zusammen, die er aber sogleich wieder weit aufriss. Von der Koppel her hörte er Geräusche. Fürchterliche Geräusche, die ihm den Atem nahmen und das Blut in den Adern gefrieren ließen …

 

 

 

Schweißgebadet wachte Baldur auf. Sein Herz klopfte bis zum Hals, er atmete schnell. Der Mund war ausgetrocknet, die Zunge ein dicker, zäher Klumpen. Tränen liefen über die Wangen und die Lippen herab. Mit der Zunge versuchte er, die Tränen aufzufangen und den Mund mit der salzigen Flüssigkeit zu befeuchten. Beim Einatmen hörte er sich selbst schluchzen. Mit zitternder Hand wischte er sich über die feuchten Augen und richtete den starren, kraftlosen Körper im Bett auf. Der Schlafanzug klebte an ihm, die Hose war nass, unangenehm nass und kalt. Es war also schon wieder passiert! Beschämt tastete er mit den Fingern nach dem Schalter seiner Nachttischlampe. Die Glühbirne spendete nur langsam etwas Licht. Im spärlich beleuchteten, noch halbdunklen Zimmer schaute Baldur sich suchend um. Er war zu Hause. Er lag in seinem Bett. Nebenan schliefen die Eltern.

 

 

 

Er war in Sicherheit.

 

Alles war gut!

 

Aber der Traum?

 

 

 

„Das war nur ein Albtraum! Der hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun“, würde seine Mutter  sagen und ihn dann zur Beruhigung mit ihren Händen sanft streicheln. „Du weißt ja: Wenn Elfen, oder wie man früher sagte, Alben, sich verirren und den Weg nach Hause nicht finden, ruhen sie sich manchmal auf der Brust eines Menschen aus. Ganz nahe an seinem Herzen. Dort fühlen sie sich wohl, weil sie das Herz des Menschen schlagen hören. Wir Menschen aber spüren, wie es uns drückt. Das macht uns Angst. Dadurch verändern sich unsere Träume und können manchmal zum Fürchten werden.“

 

Baldur atmete tief ein und aus und versuchte so, die aufgestaute Anspannung und alle albende Elfen der Welt loszuwerden. Die Kälte, die er schon beim Aufwachen verspürte, überzog jetzt Arme und Beine mit Gänsehaut und breitete sich am gesamten Körper aus. Fröstelnd setzte er sich im Bett auf. Mechanisch zog er sich die feuchten Kleidungsstücke aus und warf sie zusammen mit dem Bettlaken auf den Boden. Vom Traum noch ganz benommen stand er auf und schob den nassen Haufen mit den Füßen unter das Bett. In der Früh musste er ihn, von der Mutter hoffentlich unbemerkt, in die Waschmaschine stecken. Nackt tappte er zu seiner Kommode und holte sich einen neuen Schlafanzug, in den er gleich hineinschlüpfte.

 

Baldur massierte mit spitzen Fingern seine Arme, die Brust, den Rücken. Langsam verschwand die Kälte. Mit der Wärme, die sich nun an den gedrückten Stellen einstellte, spürte er sich allmählich selbst wieder. Eine Wolldecke aus dem Schrank breitete er nun als Unterlage auf der Matratze aus. Mit den Händen tastete er die zurückgeworfene Zudecke ab in der verzweifelten Hoffnung, keine nassen Stellen zu finden.

 

Gott sei Dank - alles war trocken geblieben! Erschöpft setzte Baldur sich danach auf die Bettkante und ließ sich nach hinten auf das Kopfkissen fallen. Auf der Suche nach Wärme rollte er sich auf der Seite zusammen und zog die Zudecke über den Kopf.

 

Verzweifelt presste er Herrn Dwag, seinen Schmusezwerg aus frühen Kindheitstagen, der immer neben seinem Kopfkissen lag, an sich und dachte schweren Herzens: „Alles gut? In Sicherheit? Nein! Ganz und gar nicht! Sicher ist gar nichts mehr!“

 

 

 

Das war seine Wirklichkeit.